Text: Anna-Birke Lindewind / Illustrationen: Mele Brink
Prolog
Das Mädchen und der Tod
Erschrocken stolperte die Kleine zurück, als ein Gesicht vom Grund des Sees zu ihr emporblickte. Ein Schatten, dunkler als die Nacht, schälte sich aus der Finsternis. Selbst das Mondlicht wurde vom Schwarz seines Mantels verschluckt. Er zog einen Stab und richtete die Spitze auf ihre Brust. Eine unsichtbare Klinge durchbohrte ihr Herz. Keuchend sank das Mädchen zu Boden, wand sich im Gras und blieb schließlich liegen. Der Fremde kauerte sich neben den Leichnam, nahm seine dunkle Brille ab und fuhr sich über die tränennassen Augen. Augen, so goldgelb wie die des toten Kindes.
„Vergib mir“, flüsterte er. „Ich wollte es nicht, aber du musst uns beschützen. Du musst das hier beschützen.“ Er legte die leblosen Finger um einen länglichen Gegenstand, küsste die Kleine auf die Stirn und schaute zum Himmel empor. Nur mit den Sinnen eines Zauberers ließ sich das Flackern wahrnehmen. Wie ein kaputter Bildschirm sah es aus, ein Blitz folgt, ein so grelles Aufleuchten, dass es sekundenlang blind machte. Dann lag der Harzwald wieder unverändert vor ihm. Fichten rauschten. Nebel trieb übers Wasser. Nicht einmal die Zeit selbst würde merken, was geschehen war. Zitternd erhob sich der Fremde und verschwand zurück in den See. In die Tiefe, wo ihn das Licht nicht fand.
Kein Foto für Untote
„Köpfen? Das muss man sich mal vorstellen. Köpfen! Fällt den Idioten nichts Spannenderes ein?“ Enttäuscht warf Fridolin seinen Comic weg. Er dehnte sich, streckte die Beine, so gut es auf der Rückbank ging, und gähnte. Johannas elfjähriger Bruder war grundsätzlich unzufrieden mit Geschichten, in denen niemand gekocht, gehäutet oder wenigstens zersägt wurde.
Das sei halt eine Phase, meinte ihre Mutter. Vielleicht auch eine Phase bei überforderten Alleinerziehenden, alles auf „Phasen“ zu schieben, dachte Johanna. Die Sechzehnjährige kannte zuverlässigere Mittel, um mit verwöhnten Jungs fertigzuwerden.
„Wer
sich beschwert, muss Karte lesen.“ Sie warf einen Atlas auf die Rückbank und traf damit Konrad, ihren zweiten Bruder, der seit Stunden über den miesen Handyempfang jammerte.
„Hast du sie noch alle?“
„Armer Konrad. Hat Hanna dich beim Chatten mit deiner geliebten Franzi gestört?“ fragte Fridolin gehässig. „Die ist doch sooo süß.“
„Neidisch, weil du selber keine Freunde hast?“ Konrad zielte auf die letzte Fliege, die sein Mückenspray-Massaker überlebt hatte. „Zwei Wochen ungezieferverseuchte Pampa! Kein Handynetz, kein Bus und jetzt wirft meine Öko-Schwester mit Büchern um sich.“
„Schau lieber mal, ob du ein ‚Am Schwindeweg‘ findest“, schlug Johanna vor. „Muss südlich von Bad Harzburg liegen.“ Sie kurbelte die Fensterscheibe herunter. Ein Duft von frischer Erde und Wald strömte herein. Ihr Auto hatte längst den unappetitlichen Geruch jeder langen Urlaubsfahrt angenommen: abgestandene Luft, Sandwiches und Chemikalien, mit denen Konrad auf alles zielte, was einem Insekt ähnelte.
Genau wie ihr Bruder wäre sie lieber an einen Strand gefahren, nach Süden, wo es auch im Herbst noch warm war. Das hatte ihnen ihre Mutter schon seit Jahren versprochen. Stattdessen ging es in den Harz mit seinem dunklen Wald und dem Regen. Und nebenbei durfte sie die nächsten zwei Wochen auf ein verzogenes kleines Biest und einen miesepetrigen Vierzehnjährigen aufpassen. Es wäre das erste Mal, dass ihre Mutter während der Arbeit an einer Ausgrabungsstätte Zeit für ihre Kinder gefunden hätte. Johanna hatte sich daran gewöhnt. Anja Stahlbaum war eben eine leidenschaftliche Archäologin, die für ihre Arbeit fast alles opferte. Vor allem ihre Freizeit.
Johanna verstand sie durchaus, zumindest gab sie sich Mühe. Wenigstens eine in dieser Familie musste sich am Riemen reißen. Und immerhin konnte sie hier ein paar Fotos vom Nationalpark schießen. Die ließen sich für ein geplantes Umweltprojekt der Schülervertretung nutzen.
Hinter ihr blätterte Fridolin im Atlas.
„Am Schwindeweg“, wiederholte er die Adresse, nach der sie suchten. „Klingt nicht, als ob‘s gefunden werden will, oder?“ Er musterte die Wege, die sich zwischen Wäldern und Bergen hindurchschlängelten. Jeder dritte Ort hieß irgendwas mit „Hexe“ am Anfang. Hexenstieg, Hexenritt, Hexentanzplatz …
„Jedenfalls klingt‘s nicht, als ob ich es finden will.“ Unglücklich fuchtelte Konrad mit seiner Sprühflasche herum, um eine Mücke zu verscheuchen. „Luke dicht, Hanna, es zieht. Mann! Alles nur wegen ‘ner bekloppten Gruft, die meine archäologiebegeisterte Mutter …“ Weiter kam er nicht. Auf der Straße vor ihnen war etwas aufgetaucht. Etwas Großes.
„Vorsicht!“ Mehr vor Schreck als in irgendeiner Absicht packte Johanna ihre Mutter beim Arm. Frau Stahlbaum riss das Lenkrad herum. Äste brachen, Bremsen quietschten, Reifen schlitterten durch den Matsch. In ihrer Panik vergaß Johanna sogar, die Augen zu schließen. Endlich hielten sie.
„Oh Gott!“ murmelte sie. Das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie die eigene Stimme kaum hörte.
„Geht es euch gut?“ hauchte ihre Mutter, bebend vor Schreck. „Frido? Seid ihr …“ Sie ließ den Satz unbeendet. Selbst Konrad vergaß den lässigen Spruch, der ihm sonst bei jeder Gelegenheit auf der Zunge lag.
Vor ihrem Wagen stand jemand. Erst hatte Johanna es für ein Tier gehalten, doch es war ein Mädchen. Sieben oder acht, älter konnte es nicht sein. Ein zerschlissener grüner Mantel hing von seinen Schultern und ließ den abgemagerten Körper nur erahnen. Vollkommen reglos starrte sie ihr Auto an. Das Gesicht verbarg ein Vorhang aus verfilzten Haaren. Darunter glühten Augen … gelb? Johanna wischte ihre Brille sauber.
„Keine Sorge.“ Anja Stahlbaum zerrte hysterisch an ihrem Gurt. „Nur nicht die Nerven verlieren. Das ist …“
„… der Hammer!“ Fridolin zückte sein Handy. „Zombie im Harz angefahren. Das kommt auf Instagram.“
„Sag mal spinnst du?!“ Johanna wollte ihm das Gerät entreißen. Der Junge verpasste ihr einen schmerzhaften Hieb mit dem Ellenbogen.
„Lass mich! Ich will ein Foto.“ Er drückte auf den Auslöser, das gewohnte Geräusch erklang, ein Ladesymbol erschien, dann explodierte das Handy. Schwarzer Rauch breitete sich im Wagen aus.
„Scheiße!“ schrie Konrad.
Johanna hielt sich Mund und Nase zu.
„Verdammt, was war das jetzt?“ Es stank jämmerlich.
Hustend tastete ihre Mutter nach dem Türgriff.
„Ganz ruhig.“ Sie klang viel zu hektisch, um irgendjemanden zu beruhigen. „Wir müssen …“ Ein Blick auf die Straße ließ sie verstummen. Kein Mädchen. Nicht einmal Fußabdrücke. Als hätte es der Regen fortgespült.
„Was zur Hölle …“, flüsterte Johanna.
Fridolin saß wie erstarrt neben Konrad. Über seine Finger zogen sich Brandwunden, und seine Haare standen zu Berge wie bei einer Comicfigur, die in die Steckdose gefasst hatte.
Besorgt kümmerte sich ihre Mutter um das Desaster auf der Rückbank, während Johanna ausstieg und ins Dickicht rannte.
„He!“ Ihre Stimme verlor sich zwischen den Bäumen, verschluckt vom Schweigen des Waldes. Wie Nebel pirschte sich Stille von allen Seiten heran, hüllte sie ein, bis sie kaum noch den eigenen Herzschlag hörte. Dunst und Schatten mischten sich zwischen den Stämmen zu einem undurchdringlichen Grau und ließen kaum die Straße erkennen. Nichts. Weit und breit keine lebende Seele.
...
Neugierig betrachtete die Achtjährige Johanna. Mit ihrem streichholzkurzen Haar und dem Anti-Atomkraft-Shirt glich sie nicht gerade ihren Heldinnen aus dem Märchenbuch. Trotzdem hatte das große Mädchen etwas Beeindruckendes. Etwas, das sich vielleicht nur mit dem zweiten Gesicht sehen ließ. Bevor sich Alice über die beiden Jungs eine Meinung bilden konnte, war es erstmal an ihr, vorgestellt zu werden.
„Das ist Alice“, erklärte Frank Stein, „meine Nichte.“
„Parapsychologin.“ Die Kleine reichte allen geschäftsmäßig die Hand. „Gesprächstherapie für Seelen, die den Weg ins Jenseits suchen.“
Fridolin prustete los.
„Psycho für Psychos?“
Johanna verpasste ihm einen weiteren Tritt.
„Nett, dich kennenzulernen.“ Sie streckte die Hand aus. Alice ergriff sie, doch ihr Blick galt Fridolin. Er war kaum größer als sie selbst, sommersprossig, mit goldenen Locken.
„Du bist der, dem das Handy gehört hat, oder?“ fragte sie. „Ich hoffe, der Untote, dem ihr begegnet seid, ist keiner meiner Patienten. Wie sah er denn aus?“
„Alice, bitte!“ Frank Stein war die Frage seiner Nichte sichtlich peinlich.
Fridolin ließ sich davon nicht beeindrucken:
„Na, wie ‘n Zombie aus ‘nem Horrorfilm!“
„Wie ein obdachloses Mädchen“, unterbrach Johanna die Diskussion. „Aber es war wohl nur der Nebel.“ Sie gab sich Mühe, die Worte selbst zu glauben. Sie hatte die schweigenden Bäume nicht vergessen. Das war nicht die Stille eines Waldes gewesen, das war … Totenstille.
„Kann sein, muss aber nicht. Der Harz ist seit ewigen Zeiten die Heimat der Magie“, erklärte Alice. „Habt ihr nie vom Brocken gehört? Dem Blocksberg, wo sich die Hexen treffen? In diesem Gebirge gehen die merkwürdigsten Dinge vor sich, und seit Onkel Frank diese Gruft mit der Leiche gefunden hat, wegen der eure Mutter hier ist …“
„Alice, wollen wir nicht langsam los?“ In dem Blick, den der Hausmeister mit seiner Nichte wechselte, lag fast schon Verzweiflung. Selbst ohne zweites Gesicht konnten die Geschwister das sehen.
Unauffällig stahl sich Fridolin beim Einsteigen an Alice‘ Seite.
„Diese Gruft …, du weißt mehr darüber, oder?“
Alice beantwortete die Frage mit einem Gesichtsausdruck, der seine Hoffnung bestätigte.
„Onkel Frank sagt, ich soll nicht darüber sprechen.“
„Sicher.“ Fridolin lächelte. „Ein Geheimnis teilt man nur mit wirklich guten Freunden. Übrigens meinte ich das ernst mit der Kette. Echt cool, die Köpfe.“
...
Geburtstagsüberraschungen
...
„Ganz großartige Idee, Diwo!“ schimpfte Kathi, während sie aus dem viel zu engen Fass stieg, in dem sie sich versteckt hatte. „Erst machen wir uns unsichtbar, um uns dann samt der Instrumente in Fässer zu zwängen und in die Therme schmuggeln zu lassen!“
„Hat doch geklappt“, gab der Anführer zurück. „Hast du den Eingang nicht gesehen? Die haben extra einen Vorhang davorgehängt, damit sie sehen, wenn Unsichtbare reingehen.“
„Trotzdem“, stimmte Siri zu. „Beim nächsten Mal halten wir uns wieder an meinen Plan.“
„Du hattest überhaupt keinen Plan!“
„Jetzt habe ich einen Plan. Eure Instrumente?“
Konrad hob den Schellenkranz, auch wenn das natürlich niemand sehen konnte. Ihre Kleider und Instrumente hatten sie genauso mit der Salbe bestrichen wie ihre Haut. Es war ein widerliches Gefühl. Sein ganzer Körper klebte, aber solange er zu diesem Obskurril kam, hätte er auch in Honig gebadet. Das hieß, falls er überhaupt bis zu ihm kam. Konrad hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.
Sie hatten eine Hexe überfallen, waren auf ein Zugdach gesprungen und jetzt bei einem Vampir eingebrochen. Was würde mit ihnen passieren, wenn man sie erwischte? Wurden Verbrecher in Niemandsreich hingerichtet? Immerhin gab es auch noch Römer und Könige und bei denen wurde die Todesstrafe bekanntlich regelmäßig verhängt, oder?
„Wir müssen ein Bad finden!“ Siris Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Dürfte in ‘ner Therme nicht so schwierig sein. Also kommt.“
Konrad spürte, wie jemand nach seiner Hand griff. Sie waren mit den Fässern in einen Weinkeller gebracht worden. Von hier aus führte eine Treppe in ein Labyrinth aus breiten Fluren. Durch ihr steriles Weiß erinnerten sie Konrad an eine Klinik.
Die Räuber folgten dem Geräusch des Wassers. Schließlich landeten sie in einem stickigen Raum. Es herrschte eine unerträgliche Hitze. Als Diwo eine Lampe anzündete, wurden Wassertropfen sichtbar, die durch die Luft tanzten. Konrad kannte etwas in der Art aus den römischen Bädern in Trier. Viel war nicht von ihnen übrig, aber der Raum, in dem er jetzt stand, sah ungefähr so aus wie die Rekonstruktion auf der Erklärungstafel: ein rundes Becken, das von einem unterirdischen Rohr gespeist wurde. Dahinter spie eine Zinnfigur Wasser in ein Fußbad. Alles wirkte geheimnisvoll und gespenstisch. Dampf wallte über den Boden und in einem Schrank reihten sich fremdartige Duftöle.
„Beeilt euch“, zischte Diwo. „Uns bleibt nicht viel Zeit, um die Salbe abzuwaschen.“
„Meine arme Laute“, murmelte Kathi, die sich kaum vorstellen konnte, dass die feuchte Luft dem Holz guttat.
Konrad stellte fest, dass der Wasserdampf salzig schmeckte, als er sich über die Lippen leckte. Auch der Geruch erinnerte ihn an den des Meeres.
„Das ist heiß!“ hörte er jemanden quietschen.
„Was hast du denn geglaubt? Und jetzt mach hier nicht so einen Krach.“
Konrad näherte sich dem Wasser nur zögernd. Es schlug bereits Wellen, die erkennen ließen, dass jemand darin sein musste. Es war ein seltsamer Anblick, wie die unsichtbare Gestalt vor ihm stand. Das Wasser zeichnete den Körper wie ein Loch in das Becken und ließ die Konturen von Kathi erkennen, die ihn lachend nass spritzte, als sie das Paar Füße bemerkte, das zu ihr ins Wasser stieg.
„He!“ Konrad stolperte rückwärts. Das Wasser war wirklich heiß.
„Tschuldigung“, lachte die Hexe. „Ich dachte, du wärst Diwo.“
Konrad spritzte sie ebenfalls nass und bekam anschließend eine ganze Fontäne von Siri und Diwo ins Gesicht, die schreiend neben ihm landeten. Danach stritten sich die Beiden, wer wen geschubst hätte.
„Wie war das mit ‚leise sein‘?“ fragte Kathinka.
Die Creme erwies sich als ausgesprochen hartnäckig. Sie brauchten über eine Stunde, um ihre Instrumente sauber zu bekommen, und als sie endlich völlig durchnässt im Ankleideraum standen, sah man immer noch Spuren der Unsichtbarkeit: Esel wirkte blasser als sonst. Von Diwo fehlte ein Fuß.
„Na toll! Wenn die kaputt ist, könnt ihr mir ‘ne neue kaufen.“ Stirnrunzelnd betrachtete Kathi ihre Laute. Sie hatte die Salbe so vorsichtig wie möglich abgewaschen. Trotzdem schien das Instrument völlig verstimmt und an einigen Stellen war der Lack abgeplatzt.
„Ja, meins klingt auch irgendwie komisch.“ Esel blies demonstrativ in seinen Dudelsack. Ein schrilles Fiepen erklang und eine Wasserfontäne schoss aus einer Pfeife. Sie traf ihren Anführer mitten ins Gesicht.
„Was erwartest du denn, wenn du deinen Dudelsack einfach ins Schwimmbecken wirfst?“ prustete Diwo. „Wirklich super Idee, Siri. Warum konnten wir uns nicht einfach unsichtbar auf die Feier schleichen und Obskurril schnappen?“
„Weil sich Obskurril nicht so einfach schnappen lässt“, erwiderte die Sirene. „Wie hättest du ihn denn da rauskriegen wollen? Wenn ein Haufen Unsichtbarer sich auf einen alten Mann stürzt, merkt das jeder.“
„Na jetzt werden wir erst recht auffallen, wenn ich deinen Plan richtig verstanden habe“, entgegnete der Anführer.
„Weil es der Plan ist, aufzufallen“, antwortete die Sängerin. „Jetzt kommt! Die Instrumente erholen sich schon wieder und Lutando und sein verzogenes Balg werden eh nie unsere Fans. … Bereit, Kathi?“
Die Hexe hob ihren Arm, woraufhin ein Sturm losbrach, der den Kleiderständer und eine Bank umwarf. Konrad hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. Die warme Luft ließ seine Augen tränen. Als der Wind endlich abflaute, war selbst sein Pullover wieder trocken.
„Gute Arbeit“, lobte Diwo. „Wenigstens eine, auf die man sich verlassen kann.“
Die Diener, die den Festsaal bewachten, hoben erstaunt die Köpfe. Die Gruppe, die sich ihnen näherte, sah nicht aus, als wäre sie zu Sybilles Feier eingeladen: verfilzte Haare, bekleidet wie ein Wanderzirkus.
„Hey, na? Was geht?“ fragte Diwo betont lässig.
Die Wachen wechselten irritierte Blicke.
„Wir sind die Band, die heute Abend spielen soll“, erklärte Kathi, wobei sie ein paar Saiten ihrer Laute anschlug.
Die Diener wirkten ratlos.
„Wir wissen nichts von einer Band“, meinte einer.
Siris Gesicht nahm einen genervten Ausdruck an.
„Fragt doch Hans Gänseschnabel.“
„Hans Gänseschnabel?“ erkundigte sich Diwo, als sie an den Türstehern vorbei waren.
„Arbeitet bei der Palastwache. Hab ihn in der SonderBar kennengelernt.“
„Du hast was mit der Palastwache?“
„Zumindest so lange, bis er rausfand, dass ich außerdem sein Portemonnaie hatte.“
Schweigend sah Alice zum Fenster. Sie wünschte, in den Garten zu dürfen. Blassgolden brach sich das wenige Licht, das von dort hereindrang, in den Edelsteinen. Ihr war langweilig.
Die Schüsseln auf dem Tisch schienen sich auf rätselhafte Weise selbst nachzufüllen, ebenso wie die Kerzen auf der Torte seit Stunden brannten, ohne zu schrumpfen. Die Leute schwatzten und lachten.
Von der Tür her ertönten erregte Stimmen. Eine Art Menschenauflauf. Neugierig hob Alice den Kopf. Dass die Personen, die eintraten, nicht zu den Gästen gehörten, erkannte sie sofort. Sie wirkten heruntergekommen und sahen sich neugierig um. Alice‘ Blick blieb am letzten der Neuankömmlinge hängen.
„Konrad?“ Fassungslos sprang sie auf. Auch der Junge blieb stehen und starrte sie an. Stumm formten seine Lippen ihren Namen, während sich Alice einen Weg durch die Menge bahnte.
Im Saal erhob sich aufgeregtes Raunen. Sybille, die Schrille, stand auf und machte ihrem Spitznamen alle Ehre, indem sie mit durchdringender Stimme kreischte:
„Was ist hier los? Wie kommt dieses Gesindel herein? Ich verlange eine Erklärung!“
„Ich werde sie auf der Stelle entfernen lassen.“ Graf Lutando winkte einen Diener heran.
Kathi sah sich nach Obskurril um, während Diwo zum Entsetzen der Gäste auf einen Tisch kletterte und ihren Auftritt ankündigte:
„Keine Panik, Leute. Wir sind die …“ Er wurde von zwei Dienern gepackt, wobei eine große Salatschüssel umkippte. Tomaten, Gurkenscheiben und Radieschen rollten über den Tisch. Eine Fee sprang schreiend auf, als Soße über ihren Rock schwappte. Das Geburtstagskind verfiel in wütendes Gezeter.
Alice sprang Konrad glücklich in die Arme.
„Konrad! Du bist wirklich hier? Dieses Handy! Ich habe Kontakt zu den Geistern aufgenommen!“
„Zu den ...?“ stammelte Konrad. „Was für ein Handy? Was machst du hier?“
Alice kam zu keiner Antwort, denn in diesem Moment tauchte ein alter Mann auf.
„Obskurril!“ rief Kathi, als sie ihn erkannte.
„Das ist Obskurril?“ Konrad starrte die schrullige Gestalt an.
„Ja, und das ist Konrad“, stellte Alice sie einander vor. „Du weißt schon, der Bruder von …“ Die größte Knallerbse, die sie je gesehen hatte, explodierte neben ihr auf dem Tisch und sprengte einen Wackelpudding in die Luft.
„Volltreffer!“ jubelte Siri, die eifrig dabei war, Sektgläser zu leeren. Das Durcheinander hatte sich währenddessen in der gesamten Halle ausgebreitet. Ein Chaos aus schimpfenden Räubern, überforderten Dienern und hysterischen Gästen verstopfte alle Gänge, Leute rutschten auf den verschütteten Speisen aus und wälzten sich am Boden, wobei sie andere mitrissen. Sybille begann, ziemlich aufgesetzt zu heulen.
„Das ist der furchtbarste Tag meines Lebens!“ schluchzte sie in den Armen ihrer Mutter.
„Beruhigt euch! So beruhigt euch doch!“ Der Zauberer hob beschwichtigend seine Arme. Ohne Erfolg. Ärgerlich zog er seinen Zauberstab aus dem Mantel und schwang ihn durch die Luft.
Alle Geräusche erstarben. Die Anwesenden erstarrten in ihren Bewegungen. Sogar eine Olive, die gerade in die Höhe geschleudert worden war, blieb in der Luft hängen. Allein Konrad, Alice und der Zauberer selbst schienen von der Starre unberührt.
„So und jetzt erklärt mir einer, was los ist.“ Erwartungsvoll blickte Obskurril von Alice zu dem Jungen, der sich verwirrt nach den Bremer Stadtmusikanten umsah.
Kathinka war von einem Diener ergriffen worden, Diwo raufte sich auf dem Boden mit zwei Männern und Esel kroch gerade unter einen Tisch. Aber keiner von ihnen bewegte sich auch nur einen Millimeter. Über allem schwebte Siri wie ein beschwipster Engel mit einem Glas in der Hand und Sektfontäne vor der Nase. Ein atemberaubender Anblick, der jeglichen Konrad bekannten physikalischen Gesetzen widersprach.
„Was haben Sie gemacht?“ fragte er, ohne den Blick von den reglosen Gestalten zu nehmen.
„Ich habe die Zeit für sie angehalten“, erwiderte Obskurril. „Genau deshalb sollten wir uns jetzt auch beeilen. Man darf den natürlichen Gang der Dinge nie zu lange aufhalten. … Also du bist Johannas Bruder? Was hast du mit denen da zu schaffen?“ Er wies in eine etwas unbestimmte Richtung, meinte damit aber offenbar die Räuber.
„Sie haben mich hergebracht“, antwortete Konrad, „um Sie zu treffen. Sie sagen, Sie wären der Einzige, der mir vielleicht helfen kann.“ Er warf einen Blick zu Alice. Selbst wenn er nicht geglaubt hätte, das jemals zu sagen, war er froh, sie zu sehen. Das gab ihm mehr Hoffnung als jeder Zauberer. Es musste also einen Weg zwischen den Welten geben, und auf diesem Weg musste man auch wieder zurückkommen.
„Na gut“, Obskurril schwang seinen Zauberstab erneut. Ein wütendes Keifen war zu hören, als sich die Starre der Räuber löste.
Siri schlürfte ihre Sektfontäne aus der Luft und feuerte dabei mit einer eleganten Pirouette die nächste Knallerbse ab. Das Geschoss traf eine Waldmeisterbowlenschüssel, die krachend explodierte. Esel verschwand unterm Tisch und Diwo verpasste seinem erstarrten Gegner einen Schlag, der ihm normalerweise die Nase gebrochen hätte. Es dauerte einen Moment, bis die Vier merkten, dass sich niemand mehr wehrte oder wenigstens aufschrie.
„Keine Zeit für Erklärungen!“ Der Zauberer ließ sie nicht zu Wort kommen. „Los raus hier! Die Raum-Zeit-Anomalie dauert schon viel zu lange an.“
Obskurril löste den Fluch, sobald sie den Raum und den Flur verlassen hatten. Er brachte Alice, Konrad und die Bremer Stadtmusikanten zurück in den Weinkeller und versperrte die Tür durch einen Zauber.
„Ich hoffe, ihr seid euch im Klaren darüber, dass ihr gerade in Lutandos Therme eingebrochen seid, eine Feier verwüstet habt und ich euch durch einen eigentlich illegalen Zauber das Leben gerettet habe!“ fuhr er die Räuber an.
Diwos Mine blieb eisig und Siri kommentierte die Strafpredigt, indem sie eine Champagnerflasche leerte, die sie vom Buffet hatte mitgehen lassen. Allein Kathi schien den Ernst der Lage zu begreifen.
„Wir sind nur wegen ihm hier.“ Sie deutete auf Konrad. „Wir haben ihn …“, sie zögerte, „…gefunden.“
„Das stimmt“, kam Konrad ihr zu Hilfe. „Ich hatte mich … na ja … verlaufen.“
„In Schreckschrines Laden“, ergänzte Siri zwischen zwei Rülpsern. „Wir haben ihn gerettet.“
„Haben wir?“ fragte Esel. Diwo versetzte ihm einen Tritt.
„So? Ich erinnere mich, dass wir gestern Nacht Vollmond hatten.“ Obskurril verschränkte die Arme vor der Brust.
Konrad ersparte den Räubern die Peinlichkeit weiterer Erklärungen:
„Gibt es irgendeine Möglichkeit, wieder zurückzukommen? In unsere Welt, meine ich. Bitte! Ich kann hier nicht bleiben. Meine Mutter! Und überhaupt will ich einfach wieder nach Hause, verstehen Sie?“
Der Zauberer bedachte Konrad mit einem Blick, der dessen Hoffnung sinken ließ.
„Es tut mir leid“, meinte er. „Die Angelegenheit ist komplizierter, als du annimmst. Bislang wissen wir nicht einmal, womit wir es zu tun haben.“
„Aber sie ist doch auch hier!“ Verzweifelt deutete Konrad auf Alice.
„Es kam wahrscheinlich zu einer kurzzeitigen Überlappung zweier Dimensionen“, antwortete der Zauberer ruhig. „So etwas passiert manchmal, aber nur selten geschieht es, dass Leute dabei von einer Realität in die andere wechseln. Euer Fall ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, vor allen Dingen wegen der Handynachricht.“
„Nachricht? Handy? Hä?“ Konrad verstand gar nichts mehr. „Was soll der ganze Mist! Kann mir mal jemand in vernünftigen Worten erklären, was hier abgeht?“
„Dein kaputtes Handy war nicht kaputt“, antwortete Alice. „Es hat Verbindungen zu dieser Welt geknüpft. Schließlich hat es mir eine uralte Prophezeiung geschickt.“
„Nur das Kind, das nie geboren wurde, vermag es, den Unsterblichen zu töten“, zitierte Obskurril.
„Der Sturz Finians!“ rief Kathinka.
„Niemand weiß, gegen wen sich die Worte richten“, berichtigte Obskurril kühl.
„Ach nein?“ Diwo machte einen Schritt auf ihn zu. „Wer hat uns denn in den ganzen Schlamassel geritten? Wir brauchen keinen König! Und wir haben nie einen gebraucht!“
„Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst“, fauchte Obskurril.
Alice schwieg, während der Zauberer und die Räuber in Streit gerieten. Sie dachte an Finian und das, was Apirilla gesagt hatte. Dass niemand den König jemals gesehen hatte, war schon merkwürdig. Aber immerhin hatte Obskurril gesagt, er wäre beschäftigt. Und ein Zauberer wusste es sicher besser als ein Versicherungsorakel. Sie hob den Kopf, als sich Konrad neben sie setzte. Er sah niedergeschlagen aus, und wenn Alice ehrlich war, fühlte sie sich genauso.
„Wie bist du eigentlich hergekommen?“ fragte der Junge, als müsse er sich ablenken.
„Weiß ich auch nicht genau“, antwortete Alice. „Ich, Johanna und Fridolin waren auf der Suche nach dir. Dann standen wir plötzlich vor der SonderBar.“
„Soll das heißen, Hanna und Frido sind auch hier?“ Konrad riss die Augen auf.
Alice nickte.
„Mehr weiß ich allerdings nicht. Fridolin ist verlorengegangen, und Johanna wurde für die Räuberkönigin gehalten. Sie haben sie eingesperrt, aber jetzt ist sie weg und Obskurrils Schüler sagt, er hätte ihre Fußspuren gefunden, zusammen mit anderen Räuberfußspuren.“ Sie zögerte, als fürchte sie sich davor, ihren Verdacht auszusprechen. „Ich glaube ihm nicht.“
„Räuberkönigin.“ Konrad schien den letzten Teil ihrer Worte gar nicht gehört zu haben. Plötzlich sprang er auf und rannte auf die Bremer Stadtmusikanten zu. „He“, rief er, „ihr seid doch Räuber.“
„Dazu wollen wir im Augenblick keine Angaben machen“, bemerkte Siri mit einem Blick auf Obskurril.
„Nein, im Ernst! Wenn meine Schwester für die Räuberkönigin gehalten wird, dann muss sie bei Räubern sein!“
Die Bremer Stadtmusikanten wirkten ungefähr so verständnislos wie Konrad bei ihrer ersten Begegnung im Süßigkeitenladen. Nur Obskurril schien nach einer Weile zu begreifen. Nachdenklich legte er die Stirn in Falten.
„Man kann nicht einfach zu den Räubern gehen. Niemand kennt ihre geheimen Lager. Außerdem sind sie gefährlich.“
...