...
Catalina kehrte mit einem großen Tablett zurück und verteilte Gläser, Tassen und Teller. Allmählich gewann Marina ihre Selbstsicherheit zurück. Sie bedankte sich für die Leckereien und ließ es sich schmecken. Am liebsten hätte sie als nächstes sofort erfahren, welcher Art das Angebot wäre, von dem er im Palazzo Pitti gesprochen hatte. Allerdings wollte sie sich nicht aufdrängen. Irgendwann würde er schon mit der Sprache herausrücken.
Starhemberg hatte es mit seiner Offerte jedoch nicht eilig. Nach dem Kaffee schwatzte er von diesem und jenem, fragte sie über ihr Studium aus und lästerte über verschiedene Angehörige seiner Familie. Dazu ließ er Catalina einige Flaschen Rotwein, mehrere Gläser und frisches Wasser bringen. Marina sollte eine Verkostung vornehmen und sich dann entscheiden, bei welcher Marke sie für den Rest des Tages zu bleiben gedenke. Am liebsten hätte sie um diese frühe Stunde ganz abgelehnt, wollte andererseits aber nicht unhöflich sein. Weswegen sie wirklich nur ganz vorsichtig einige winzige Schlucke probierte.
Schließlich, die Zeiger der Uhr rückten auf 17.00 Uhr zu und Starhemberg hatte im Gegensatz zu Marina dem Wein schon recht ordentlich zugesprochen, kam er endlich zu seinem Anliegen. Wobei er zunächst eine lange Pause machte und den Blick von seinem Gast abwandte. Es schien, als suche er in der Ferne etwas, an dem er sich festhalten könnte. Was die Neugier der Kunsthistorikerin noch mehr befeuerte, denn bei irgendeinem lapidaren Spaß hätte der Graf sicher schneller zum Punkt gefunden. Dass sie sich Sorgen möglicher Anzüglichkeiten wegen hätte machen müssen, dafür hatte er ihr bislang nicht den geringsten Anlass gegeben. Von Kopf bis Fuß ein Gentleman. So kam es, dass beide schwiegen. Marinas Anspannung wuchs ins Unermessliche. Endlich drehte er sich wieder um und sah ihr tief in die Augen. Er begann mit einer Frage.
„Es ist also so, dass Sie sich mit barockem Schmuck auskennen, richtig?" Sie nickte. „Wäre es Ihnen möglich, mir gegebenenfalls eine Kopie Ihrer Masterarbeit zukommen zu lassen, damit meine Partner und ich uns selbst ein Bild über Ihren Kenntnisstand machen könnten?" Nicken. „Gut. Trauen Sie sich zu, eine historische Preziose von einer modernen Fälschung unterscheiden zu können, selbst wenn diese sehr perfekt ausgeführt sein sollte?"
„Ich denke schon. Meist gelingt der künstliche Alterungsprozess nicht hundertprozentig. Es kommt aufs Material an."
„Ich spreche von Diamanten."
„Wie meinen Sie das? Eine reine Kopie?" Er zögerte. Dann schluckte er und begann.
„Ich glaube, ich muss etwas weiter ausholen. Wobei ich Ihnen, liebe Marina, ... darf ich Sie so nennen?"
„Gern."
„Gut, nennen Sie mich Ludowig. ... Passen Sie auf. Ich setze in diesem Moment ein riesiges Vertrauen in Sie. Nichts, aber auch gar nichts von dem, was wir jetzt besprechen, ist für dritte Ohren bestimmt. Absolute Diskretion! Wollen Sie mir das versprechen, Marina?" Sie nickte. „Vorzüglich. Dann hören Sie mir gut zu. Es wird in Kürze eine Art Versteigerung geben. Ich weiß noch nicht wann, ich weiß noch nicht wo. Nur so viel: Der Verkäufer kommt aus Deutschland und will anonym bleiben. Angeblich verarmter Adel mit viel Waldbesitz. Von dem aber ist durch Trockenheit und Borkenkäfer nicht mehr viel übrig. Natürlich soll möglichst niemand mitbekommen, dass es mittlerweile so schlimm steht, dass er sein Familiensilber verscherbeln muss. Am allerwenigsten der Fiskus, der sonst die Hand aufhalten würde.
Der gesamte Verkauf soll daher unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgewickelt werden, denn auch die potenziellen Käufer wollen nicht, dass irgendjemand erfährt, dass sie die neuen Besitzer der betreffenden Stücke sind. Weswegen es kein offizielles Bieterverfahren geben und auch keines der großen Auktionshäuser beteiligt sein wird." Marina hielt den Atem an. Sie hatte von derartigen illegalen Geschäftspraktiken gehört. Die Grenzen zu kriminellen Milieus verliefen fließend.
Genau an der Stelle setzte der Graf mit seiner Erklärung fort. „Nun können Sie sich denken, dass solche Geschäfte Betrügern Tür und Tor öffnen. Da es sich um sehr wertvolle Stücke handeln soll, die Rede ist von mehreren Millionen Dollar, ist es natürlich denkbar, dass sich entweder unterwegs ein Zwischenhändler bereichern will oder dass sogar eine vom Verkäufer selbst hergestellte Kopie im Umlauf ist, um die Unterwelt, die auf so einen Coup natürlich nur wartet, gegebenenfalls zu täuschen. Der voraussichtliche Erlös des Verkaufes dürfte den Aufwand mehr als rechtfertigen." Starhemberg holte Luft. „Jetzt kommen Sie ins Spiel. Wer immer die Kopie anfertigen lässt, wird gewiss keine echten Steine verwenden. Andererseits reden wir wahrscheinlich auch nicht von Swarovski-Diamanten, denn die würden wohl selbst halbwegs fachkundige Laien identifizieren können."
Marina saß wie betäubt. Hielt der Mann sie für naiv oder glaubte er tatsächlich, dass sie sich auf solche krummen Touren einließ? Um ihre Sorge nicht zu offenkundig werden zu lassen, versuchte sie ihre Nervosität mit einer sachlichen Frage zu übertünchen.
„Dann können Sie nur von YAGs reden. Habe ich recht?"
„Richtig. Wie ich sehe, kennen Sie sich aus. Ja, ich rede von Yttrium-Aluminium-Granat Steinen, künstlich hergestellten kristallinen Verbindungen. Ich habe solche Steine bisher erst ein einziges Mal selbst gesehen und ich gestehe, hätte man mir es nicht erklärt, ich wäre auf den Fake hereingefallen." Marina zog die Brauen hoch und pfiff leise durch die Zähne.
„Ja", meinte sie, „wenn man die Dinger mit bloßem Auge betrachtet, wird es ganz schwer, einen Unterschied zu bemerken. Es wäre unbedingt notwendig, präzise Instrumente zur Verfügung zu haben. Mikroskop, Waage und so weiter. Und es sollte möglich sein, die betreffenden Steine separat zu untersuchen."
„Das dürfte schwierig werden."
„Wenigstens gründlich unter die Lupe nehmen wäre aber unabdingbar. Natursteine haben meist winzige Einschlüsse. Künstlich hergestellte Kristalle sind lupenrein.
„Und was ist mit den Fassungen?" fragte der Graf.
„Gold?"
„Gold und Silber, historische Goldschmiedearbeiten."
„Wie gesagt, theoretisch ist es nahezu unmöglich, eine zu einhundert Prozent perfekte Kopie zu machen, denn auch die Originale können Fehler enthalten. Sei es bereits vom Hersteller, sei es durch spätere Beschädigungen. Gold und Silber sind weiche Metalle. Um das mit letzter Sicherheit bestimmen zu können, müsste man die Originale kennen. Und zwar mit all ihren unscheinbaren Details. Besser wäre allerdings eine chemische Probe, um die Herkunft des Materials zu bestimmen."
„Hm", Starhemberg überlegte, „das klingt nicht gut. ... Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit, wenn ich Ihnen Fotos und Beschreibungen der Originale beschaffe und Ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, zumindest einen kurzen Blick mit Ihren Instrumenten auf die Objekte zu werfen, eine Expertise abgeben zu können?"
Marina schwieg. So eine Frage gehörte nicht gerade zum Unterrichtsstoff an der Uni. Sie wusste, dass sich schon Experten mit langer Berufserfahrung geirrt hatten. Sie war kein Goldschmied, kein Diamantenhändler. Aber immerhin war sie solchen Leuten im Zuge ihrer Masterarbeit sehr nahegekommen, hatte in deren Werkstätten einschlägige Erfahrungen mit historischen Arbeiten sammeln können. Dabei hatte sie zumindest ein paar Tricks aufgeschnappt. Sie sah die erwartungsvollen Augen ihres Gastgebers. Sie musste eine Schätzung riskieren.
„Ich denke, eine Sicherheit von sagen wir um die 75 Prozent könnte ich garantieren.“ Der Graf atmete auf.
„Das sollte in der Tat genügen.“
„Vielleicht auch mehr. Jedenfalls unter den von Ihnen genannten Bedingungen. Viel hängt wirklich davon ab, wie genau Sie mich vorher mit Informationen über die Originale versorgen können. Schliff, Herkunft und so weiter."
„Machbar. Die nötige Zeit und Gelegenheit müssen der Gegenseite vom Verkäufer bei einem solchen Geschäft immer eingeräumt werden. Der Rest ist persönliches Risiko."
„Das heißt?"
„Das heißt, ich werde von der hochgestellten Persönlichkeit, die am Kauf interessiert ist, in Kürze mit allen nötigen Details gebrieft. Unsere Aufgabe wird es dann sein, Ort und Zeit der Geschäftsabwicklung ausfindig zu machen. Dabei wird uns eine Galeristin behilflich sein, die über einschlägige Kontakte verfügt."
„Moment!" unterbrach ihn Marina. „Sie reden von ‚wir‘, Ludowig. Ich habe noch nicht ja gesagt. Das, was Sie mir hier vorschlagen, klingt spannend, ganz klar. Aber verstößt so ein Geschäft nicht gegen etliche Gesetze?"
„Wie meinen?" Erstaunt blickte sie der Graf an. Hatte er einen Fehler begangen? So offen und klug, wie die Frau ihm begegnet war, hatte er es für besser gehalten, Klartext zu reden. Und nun das. Leute mit Skrupeln konnten einem jedes Geschäft verderben. Aber welcher normale Mensch hatte denn Skrupel, wenn es darum ging, ein paar Steuern zu sparen? Vor allem in Italien. Aber klar, sie war eine Deutsche, frisch von der Uni. Vollgepumpt mit moralischen Grundsätzen. Das hatte er in seiner Begeisterung unterschätzt. Starhemberg grübelte, wie er sich so schadlos als möglich aus der Affaire ziehen könnte.
Marina deutete sein Zögern anders. Sie verzog das Gesicht. Wollte der Kerl sie testen oder war er wirklich so blöd? Sie hielt eine Erklärung für angebracht.
„Es ist doch ganz einfach. Wenn die Finanzbehörden nichts davon erfahren sollen, dann handelt es sich ganz klar um Steuerhinterziehung."
„Kann sein, und?"
„Wie, kann sein, und?"
„Mal im Ernst, haben Sie in Ihrem Leben immer alles Geld, das Sie zum Beispiel für Gefälligkeiten erhielten, beim Finanzamt abgerechnet?" Marina fühlte sich ertappt. Natürlich hatte sie es nicht gemeldet, als sie eine Zeitlang einer alten Dame aus ihrem Haus half, Einkäufe zu erledigen und die Wohnung sauber zu halten. Aber ließ sich so ein in die Hand gedrückter Zehner mit teuren Schmuckverkäufen vergleichen? Starhemberg ließ ihr keine Zeit, den Gedanken weiterzuspinnen. Er legte nach: „Glauben Sie mir, in der Welt der Hochfinanz ist das ein faires Geben und Nehmen. Mal gewinnt eine Seite, mal die andere. Außerdem wissen Sie von dem, was ich Ihnen als Vertrauensbeweis mündlich berichtet habe, offiziell ja gar nichts. Ich könnte es jederzeit abstreiten und ehrlich gesagt, es geht Sie nichts an. Mich auch nicht. Wir sind beide in den Verkauf in keiner Weise involviert. Ich soll als Vermittler tätig werden, Sie bitte ich, mir zu helfen, damit unsere Auftraggeberin nicht Opfer von Betrügern wird. Was ist daran bitte falsch oder ungesetzlich? Ob Sie Ihr Honorar hinterher versteuern oder ob Sie das Geld komplett in die eigene Tasche packen, müssen Sie mit Ihrem Gewissen ausmachen. Das ist Ihre Sache. Wenn es Sie glücklich macht, stellen Sie mir eine Rechnung mit allem Pipapo. Ich vertrete Kaufinteressenten. Mehr nicht. Die Interna, die ich Ihnen vorhin offensichtlich zu leichtsinnig darlegte, sind im Übrigen reine Vermutungen. Spekulationen. Ob sie der Wahrheit entsprechen? Wir haben nichts damit zu tun. Ich dachte, in Ihnen eine faire Partnerin gefunden zu haben, mit der ich offen reden kann. Sollte ich mich getäuscht haben?"
Marina schluckte. Bei Lichte besehen hatte der Graf recht. Was wusste sie denn? Nur das, was er ihr anvertraut hatte. Peinlich. Zwar klang die Sache insgesamt ziemlich illegal, aber zumindest ihr Anteil an dem Job wäre ehrlich verdientes Geld. Der Rest hatte sie nicht zu interessieren. Vielleicht war sie einfach zu ängstlich. Dumm, unerfahren und ängstlich. Es wäre besser gewesen, den Mund zu halten. Innerlich schalt sie sich eine alte Plaudertasche. Nach außen lief sie im Gesicht wiedermal tiefrot an. Mist. Es half nichts. Wenn sie den Strohhalm, den sie in der Hand hielt, nicht gleich wieder verlieren wollte, musste sie Abbitte leisten. Also riss sie sich zusammen, blickte Starhemberg entschlossen an und meinte:
„Sie haben recht. Entschuldigen Sie bitte meine Naivität. Das sind halt Dinge, die lernt man nicht in der Schule. Und natürlich schulde ich Ihnen für Ihre Offenheit Dank. Trotzdem bleiben ein paar Fragen. Wenn Sie die Güte hätten, mir zu erklären, was Sie von mir in nächster Zeit erwarten?“
Kapitel 7 - Entscheidungen
Das Lächeln kehrte in Starhembergs bis eben sehr angespannten Gesichtszüge zurück. Insgeheim gratulierte er sich, dem Mädchen begegnet zu sein. Was war es doch für eine brillante Idee gewesen, sich in der Schatzkammer der Großherzöge in Ruhe Anregungen zu holen. Manchmal musste man einfach Glück haben, frohlockte er. Und wie erfreulich, dass sie ihn selbst daran erinnerte, ein bisschen vorsichtiger zu sein. Manchmal gingen die Pferde mit ihm durch. Vor allem nach einem guten Tropfen aus dem Weinkeller.
Also schön, mein lieber Graf, sagte er sich. Wir sind auf
halbem Wege. Jetzt muss ein Köder an den Haken, dann die Angel auswerfen und schauen, ob das hübsche Fischlein anbeißt. Das Budget, dass man ihm in Aussicht gestellt hatte, ließ zum Glück
genügend Spielraum, ihr etwas zu bieten und dabei selbst einen guten Schnitt zu machen. Wichtiger noch war ihm, dass er dank der jungen Frau weitgehend unterm Radar bleiben konnte, während sie
womöglich im Dreck wühlte und Staub aufwirbelte. Er bemühte sich, ernst zu werden. Sein Angebot musste sie überzeugen.
„Sie haben vollkommen recht, liebe Marina. Bitte verzeihen Sie mir. Ich schieße manchmal übers Ziel hinaus, wenn ich mich freue. Und über Sie und Ihre Fähigkeiten freue ich mich wirklich, das können Sie mir glauben. Ich halte unsere Begegnung für eine Fügung. ... Entschuldigen Sie bitte, ich schweife schon wieder ab. Eine wichtige Frage, besitzen Sie einen Führerschein und Fahrpraxis?"
„Führerschein ja, Fahrpraxis mangels eigenen Autos weniger. In Köln nutze ich aber manchmal Car-Sharing."
„Das genügt vollauf. Wer in Köln fahren kann, kommt auch in Italien klar. Das heißt, ich kann Sie selbständig arbeiten lassen."
„Aber was und wie?" Allmählich wurde Marina das Herumgeeiere des Grafen zu bunt. „Kommen Sie endlich zur Sache, bitte. Was erwarten Sie konkret von mir? Hellsehen kann ich nämlich wirklich nicht."
Der Graf schloss die Augen und faltete die Hände, als wolle er beten. Dann griff er fast pathetisch nach Marinas Fingern, umschloss sie fest und beugte sich zu ihr über den Tisch. Er senkte seine Stimme.
„Wollen Sie sich bitte für mich als Kunstsachverständige gegen Honorar auf die Suche nach den besagten Schmuckstücken machen und diese, sobald wir sie gefunden haben, für meine Auftraggeber prüfen? Natürlich erst, nachdem wir genauer wissen, wonach wir suchen, versteht sich. Vermutlich wird es Anfang kommender Woche soweit sein, dass ich Informationen erhalte. Und selbstverständlich müssen Sie nichts aus eigener Tasche bezahlen. Zum Start bekommen Sie 5.000,00 Euro Spesen, damit Sie sich alle Utensilien besorgen können, die Sie für eine gründliche Prüfung brauchen. Ich werde Sie mit der erwähnten Galeristin bekannt machen. Die Dame kann Ihnen bei der Zusammenstellung behilflich sein.
Nehmen Sie sich unterwegs anständige Hotels. Kaufen Sie sich ein kleines Schwarzes oder einen spießigen Hosenanzug. Nicht, dass ich Ihren heutigen Auftritt nicht bezaubernd fände, aber wer in dieser Branche arbeitet, muss mit Seriosität beeindrucken. Ich stelle Ihnen einen Wagen zur Verfügung. Drüben in der Garage stehen genug herum. Suchen Sie sich das Auto aus, von dem Sie glauben, dass es am besten zu Ihnen passt.
Wenn meine Partner grünes Licht geben, darf ich Ihnen ein Honorar in Höhe von 15.000,00 Euro zahlen. Brutto, versteht sich. Fünf erhalten Sie vorab als Vorschuss zusammen mit den Spesen, damit Sie unabhängig agieren können. Die restlichen zehn, wenn das Geschäft mit Ihrer Hilfe erfolgreich über die Bühne gegangen ist. Das wird, wenn alles gut geht, in etwa vier Wochen der Fall sein. Sollte es Komplikationen geben oder das Geld nicht reichen, bin ich jederzeit für Sie da. Mit dem eigentlichen Ankauf haben Sie selbstverständlich nichts zu tun, darum kümmere ich mich. Sie sollen mir nur helfen, alles vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass wir nicht übers Ohr gehauen werden." Dr. Ludowig Franz Graf Starhemberg ließ ihre Hände los und lehnte sich zurück. Aufmerksam beobachtete er, welche Wirkung seine Worte auf die junge Frau hatten. Dann fügte er leise hinzu: „Sagen Sie bitte ja!"
Marina war blass geworden. Sie hatte mit einigem gerechnet, damit nicht. Zwanzigtausend Euro und ein Auto. Und das für einen Job, der in ein paar Wochen erledigt sein würde. Als Monatsgehalt gewissermaßen. Natürlich wusste Sie, dass in diesen Kreisen Provisionen in enormen Größenordnungen üblich waren. Wenn Graf Starhemberg einen Millionendeal erwartete, würden für ihn vermutlich ein paar hunderttausend drin sein. Das hieß, wenn das alles der Wahrheit entsprach, dann würde er die Summe, die er ihr zugedacht hatte, aus der Portokasse bestreiten können. Wenn es der Wahrheit entsprach. Wenn.
Denn dass man ihr, einer Berufsanfängerin, eine derartige Verantwortung zutraute, das klang wie ein Traum. Völlig unglaubwürdig. Und ehrlich gesagt, zwanzigtausend Euro waren eine Summe, die sie sich nicht einmal richtig vorstellen konnte. Ungefähr in diese Richtung hatte sie sich günstigstenfalls das Salär für Ihr gesamtes erstes Jahr als Assistentin im MAKK erhofft.
Sie wusste, dass sie es konnte. Und hatte sie nicht vor ein paar Stunden gesagt: Alles auf eine Karte? Wenn der Mann in ihr genau die Expertin sah, die er brauchte, sollte sie das nicht einfach stolz machen? Aber so viel Verantwortung! Und dazu in einem fremden Land. Was, wenn sie scheiterte? Oder schlimmer, wenn der Deal wirklich auf Steuerhinterziehung im großen Stil hinauslief? Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. Andererseits klangen Ludowigs Argumente logisch.
Marina bat ihren Gastgeber, Wein nachzuschenken. Ohne Wasser. Sie leerte das Glas in einem Zug.
„Nochmal, bitte!" Der Graf erfüllte ihr den Wunsch. „Wie bald muss ich mich entscheiden?"
„Wenn Sie sich sofort entscheiden, können Sie mit dem eigenen Auto zurückfahren."
„Mit Alkohol im Blut durch diese enge Altstadt? Ich wüsste nicht mal, wo ich den Wagen parken soll." Starhemberg lachte.
„Wohl wahr, wie dumm von mir. Passen Sie auf. Wir haben heute Freitag. Nutzen Sie das Wochenende zum Nachdenken und rufen Sie mich Montag an. Wenn Sie einverstanden sind, holt Sie Paolo wieder ab. Wenn nicht, vergessen Sie bitte einfach alles, was Sie in der letzten Stunde hier von mir erfahren haben, und werfen Sie meine Karte weg. Dann hat dieses Treffen nie stattgefunden und jeder von uns lebt wieder sein Leben wie zuvor. Einverstanden?" Marina schluckte. Dann nickte sie.
„Okay. ... Bekomme ich bitte noch ein Glas?"
„Aber gern. Freut mich, dass er Ihnen schmeckt."
Apulien. Die schwüle Hitze des Tages war einer sanften Brise von See gewichen. Touristen saßen barfuß im warmen Sand. Sie blickten nach Westen, wo die Sonne gerade am Horizont im Golf von Táranto versank. Ein Schauspiel, das hier jeden Abend gegeben wurde. Und jeden Abend zog es aufs neue Schaulustige in seinen Bann.
Tarik und Brahim Benna gehörten nicht zu diesen Schaulustigen. Sie hatten bei ihrer Ankunft das Spektakel kurz zur Kenntnis genommen, wandten sich dann nach rechts und bummelten zwischen Autoscooter und Riesenrad hindurch zum Hafen. Tarik grinste.
„Eh Digga, det hat hia och schon bessere Zeiten jesehn. Kiek ma, wie verrostet der olle Lunapark is."
„Ja, Mann, müsste ma wieda jestrichen werden. Wat sachste zu det Riesenrad?"
„Absolut krass, Digga. Von da oben siehste prima, ohne jesehn zu werden."
„Jenau. Und der Hafen is von die hohe Betonmauer jeschützt. Keen Problem mit Seejang. Jut zu verteidijen." Die beiden Brüder umrundeten das Hafenbecken, wobei sie mit ihren Smartphons Fotos machten. „Check die Fischkutter, Bro. Dazwischen passt locker ne Yacht."
„Stimmt. Drüben, bei die Motorboote wär et zu enge, oda?"
„Hundert pro. Wenn, denn kommt nur de linke Seite hia infraje, wo die jroßen Kähne liejen."
„Außer, se wolln draußen ankern und komm mit een kleenet Beiboot."
„Denn wäre wieda rechts bessa. Det wäre unauffälljer."
„Fick dir, Digga, die Bucht is perfekt. Könn se nachher selba entscheiden, wie ses jern hätten. Und Platz für Autos zum Parken is hier och. Zwee Kneipen mit jroße Fensta, von wo de allet im Blick hast. Eene aus Richtung Dorf, eene zwischen die beeden Hafenbecken." Brahim, den sein Bruder Tarik grundsätzlich nur Digga nannte, nickte zustimmend.
„Jo, Bro. Is'n Scheißnest. Verpennt seit mindestens den Siebzijern. Kommt keene Sau drauf. ... Jut. Denn lass uns abhaun. Wir müssen noch Quartiere orjanisiern."
„Sachste in Berlin Bescheid, det die et weiterjeben könn?"
„Mach ick." Sichtlich zufrieden zogen die Benna-Brüder ab. Campomarino war für ihre Zwecke der ideale Ort. Im nahegelegenen Städtchen Maruggio würden sie mit Sicherheit geeignete Unterkünfte finden. Der Tag verabschiedete sich im Westen mit einem in allen Regenbogenfarben glühenden Abendhimmel über der schimmernden Wasserfläche des Golfs von Táranto.
Sottotenente Lippi alias Agente Vittorio Pazzi lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Er hatte eine ganz miese Woche hinter sich. Schlimm genug, dass er in dieses Drecksnest Savelli versetzt worden war, schlimm genug, dass er sich gleich zu Beginn seiner neuen Laufbahn als Verkehrspolizist bei den Leuten hier unbeliebt gemacht hatte. Zu allem Überfluss verpassten ihm seine Kollegen von allen Seite Fußtritte.
Stolz hatte er am Donnerstag in Crotone die erbeutete Waffe präsentiert, diesen amerikanischen Revolver, mit dem ihn der Mercedes-Besitzer bedroht hatte. Er wollte Anzeige gegen den Mann erstatten. Was der Agente daraufhin zu hören bekam, war zunächst allgemeines Gelächter und dann die erste Standpauke seines Revierleiters. Er möge bitte den guten Don Alberto in Frieden lassen. Der Kauz hätte unter seiner schrulligen Mutter genug zu leiden. Die Donna genieße als „eiserne Lady von Pietrapaola" im ganzen Gebirge einen geradezu legendären Ruf. Einige Anekdoten, die man sich über die alte Kratzbürste erzähle, seien so zum Schreien komisch, dass sie eigentlich verfilmt gehörten. Don Camillo und Peppone seien gegen die Greisin Waisenknaben gewesen.
Ihr Sohn versuche, den mangelnden Respekt daheim durch herrisches Auftreten in der Öffentlichkeit zu kompensieren. Dabei schieße er zwar manchmal ein bisschen übers Ziel hinaus, abgedrückt hätte er aber mit seiner prähistorische Knarre noch nie. Wahrscheinlich funktioniere sie gar nicht mehr. Einen Waffenschein besitze der Don ganz sicher trotzdem. Den hätten sie ausdrücklich in den Akten vermerkt. Über Details müsste sich der Herr Agente in Cosenza erkundigen, falls ihn das interessiere, weil Pietrapaola bekanntlich in den dortigen Zuständigkeitsbereich falle. Aber bitte nach Feierabend in seiner Freizeit.
Hier in Crotone werde man definitiv keine Anzeige gegen Alberto Brokkoli aufnehmen, denn der sei mit seinem klapprigen Gefährt und der museumsreifen Kanone quasi Teil der Folklore Kalabriens. Zudem komplett harmlos. Wenn der Mann irgendwann gestorben sei, müsse die Provinzverwaltung wahrscheinlich jemanden einstellen, der seine Rolle gegen Honorar übernehme. Für Touristen. Solche Details könne ein Grünschnabel aus Rom, der als gelernter Schreibtischhengst über Umwege ins Revier gekommen sei, natürlich nicht wissen. Drum Schwamm drüber und das Auto beim nächsten Mal einfach durchlassen. Dies sei ein Befehl! Marke und Kennzeichen kenne er ja jetzt. Und die Waffe möge er gefälligst zurückgeben.
Verärgert über diese Zurechtweisung, brach der strafversetzte
Verkehrspolizist zu Commissario Hofer nach Cosenza auf. Während seiner Dienstzeit! Doch anstatt Rückendeckung von seinem Chef zu erhalten, gab es den nächsten Rüffel. Ob er sich nicht genügend in
die Akten der ‘Ndrangheta -Familien eingelesen hätte? Die Brokkolis spielten da oben eine gewichtige Rolle. Zwar gebe es bisher kaum belastbares Beweismaterial gegen den Patriarchen und seine
Mutter, aber gerade deshalb müsse es doch, zum Teufel noch eins, die erste und vornehmste Aufgabe eines DIA-Undercover-Agenten sein, sich das Vertrauen solcher Leute zu erwerben und ihnen nicht
absichtlich auf den Schlips zu treten. Und überhaupt: Was sei denn daran so schwer zu begreifen, dass sein Auftrag laute, sich ein bisschen dumm und korrupt zu stellen? Das eingenommene Geld
müsse er nachher natürlich als Beweismittel gegen Quittung hier abliefern, aber um die Leute dranzukriegen, brauche es zuallererst einen Kronzeugen. Stattdessen produziere der Herr Agente
Strafzettel am laufenden Band und bringe alle gegen sich auf. Wenn ihm das Spaß mache, brauche er es nur sagen. Der Commissario könne dafür sorgen, dass er bis ans Ende seines Lebens Strafzettel
verteile. Ob ihm das lieber sei?
Wie gesagt, es war eine wirklich miese Woche gewesen. Wahrscheinlich musste der junge Mann seine Aufgabe hier noch einmal gründlich durchdenken, einen Plan entwickeln und dann ganz von vorn beginnen. Sottotenente Lippi alias Agente Vittorio Pazzi lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Gleich morgen früh würde er den Revolver persönlich zu Don Alberto zurückbringen. Am besten eingewickelt in Geschenkpapier mit einem Blumenstrauß für die Frau Mama nebst kniefälliger Entschuldigung. So hatte er sich Polizeiarbeit nicht vorgestellt. Mist!
Kapitel 8 - Kevin
Wenn etwas an dem knuddeligen roten FIAT 500 auffiel, dann war es die Tatsache, dass er, obgleich nicht gerade das jüngste Modell, blitzblank wie frisch aus dem Werk daherkam. Was daran lag, dass er bis vor kurzem als exotisches Sammlerstück zwischen verschiedenen Ferraris, Lamborghinis, Bentleys und Alfa Romeos in Starhembergs Garage gestanden hatte. Vor seiner Übergabe war er von Paolo, dem umtriebigen Chauffeur des Grafen, gründlich durchgecheckt und geputzt worden. Jetzt rollte der kleine Wonneproppen durch die Toskana nordwestlich von Florenz. Wegweiser am Straßenrand kündigten den Flughafen „Amerigo Vespucci" an. Am Steuer saß eine vergnügt die Radiomelodie mitsummende Marina Casanova. Marina hatte nicht lange überlegen müssen, sich für dieses Auto zu entscheiden. Mal abgesehen davon, dass sie sich mit den rassigen Sportboliden und schweren Luxusmaschinen, die in der Garage gestanden hatten, etwas überfordert gefühlt hätte: Wichtig war es ihr, während ihrer künftigen Arbeit im Land nicht zu sehr Aufsehen zu erregen. Und das hätte eine Frau in Ihrem Alter mit einer riesigen Nobelkarosse ganz ohne Zweifel. Da der Graf im Gespräch bereits um dezente, geschäftsmäßige Kleidung gebeten hatte, galt das ihrer Meinung nach erst recht für ihr Fahrzeug. Starhemberg hatte diese Entscheidung ausdrücklich gelobt. Das war am frühen Dienstagmorgen gewesen.
Den Vormittag hatte die junge Frau zu einer ausgiebigen Probefahrt durch die Berge genutzt. Nun war sie unterwegs zum Florentiner Flughafen. Wenn alles klappte, würde dort in einer halben Stunde Tarzan landen. Also ihr Tanzpartner Kevin von den Kölschen Harlequins. Eine verblüffende Wendung der Dinge? Keinesfalls. Marina hatte beschlossen, nach ihren eigenen Spielregeln zu spielen; Graf Starhemberg war zwar zunächst nicht begeistert gewesen, hatte dann aber nachgegeben. Es sei ihre Sache, wofür sie ihr Geld ausgebe. Sofern nachher das Ergebnis stimme, sei alles andere okay. Wobei, so einfach und logisch die Entscheidung jetzt schien, so mühevoll hatte sich Marina zu ihr durchgerungen.
Der Abend nach dem Treffen in Starhembergs Villa war einfach nur grauenvoll gewesen. Sie hatte die halbe Nacht kein Auge zu bekommen. Der viele Wein hatte sicher seinen Teil dazu beigetragen, aber nur einen geringen. Was ihr immer und immer wieder durch den Kopf ging, war das „irre Dreieck", wie sie es nannte.
Ecke eins: Sie bekam einen Top-Auftrag auf ihrem Spezialgebiet, erhielt die Chance, sich womöglich fachlich einen Namen zu machen und sollte dafür fürstlich entlohnt werden. Für eine arbeitsuchende Berufsanfängerin ein Traumstart.
Genau darin aber lag das Problem, die zweite Ecke. Es hörte sich alles zu verlockend an. Einen Haken an der Sache hatte der Graf ja selbst eingeräumt. Sie würde vermutlich für Steuerbetrüger arbeiten. Auch wenn sie mit dem besagten illegalen Geschäft persönlich nichts zu tun bekommen würde, allein, dass sie diesen Leuten half, machte sie das nicht mitschuldig? Irgendwie? Okay, es ging ihr eigentlich gar nicht unbedingt um den moralischen Aspekt, denn in einem Punkt hatte Starhemberg recht: Der Staat zog jedem weiß Gott genug Geld aus der Tasche. Allein wenn sie an die Mehrwertsteuer auf ihr Lieblingstiramisu in der Pizzeria „Diana" dachte oder auf gesundes Obst im Supermarkt. Das war Beutelschneiderei! Ganz zu schweigen von den vielen Blitzern an den Straßen. Modernes Raubrittertum! Und wenn es den Verkäufern dieses Schmuckes hier half, selbst aus einer prekären Lage zu entkommen, warum sollte das Finanzamt davon profitieren? In dem Punkt hielten sich ihre Skrupel bei näherer Überlegung tatsächlich in Grenzen.
Ihre Bedenken, und das war die dritte Ecke, gingen eher in eine andere Richtung. Selbst, wenn ihr persönlich kein Vorwurf zu machen war, konnten Kontakte zu solchen Leuten gefährlich werden. Machte sie sich erpressbar? In was für ein Milieu konnte sie geraten, wenn sie sich auf den Grafen und seine Freunde einließ? Keine Frage, der Mann machte einen seriösen Eindruck. Er war gebildet, kultiviert, charmant. Unter anderen Umständen hätte sie sich sogar ein bisschen in ihn verlieben können. Aber ein Gefühl in ihrem Bauch signalisierte ihr überdeutlich, dass an der ganzen Geschichte etwas oberfaul sein musste. Mehr noch, dass ihr womöglich Gefahr drohen könnte.
Nun war Marina Casanova nicht der Typ Frau, der sich vor dem ersten Anschein von Gefahr versteckte. Im Gegenteil. Diese Ecke machte das „irre Dreieck" genau genommen erst richtig interessant. Denn wenn etwas faul war, wäre es vielleicht nützlich, der Sache nachzugehen?
Da sich ihre Gedanken den gesamten Samstag um besagtes Dreieck im Kreis gedreht hatten, entschloss sie sich, am Sonntagmorgen in die Kirche zu gehen. In die Heilig Kreuz Kirche - Santa Croce. Ihrer Überzeugung nach gab es keinen besseren Ort, um sich zu sammeln, die Gedanken zu sortieren. Egal wie andere darüber dachten, das Kölsche Mädsche hatte von Kindesbeinen an das Gefühl gehabt, dass ihr in solchen ehrwürdigen Gemäuern jemand zuhörte. Jesus? Die Gottesmutter? Sie wusste es nicht. Jedoch, wann immer sie in ihrem Leben vor schwierigen Entscheidungen gestanden hatte, nach einem stillen Gebet zu Füßen der Jungfrau Maria fand sie meist die richtigen Antworten auf ihre Fragen.
Die feierliche Atmosphäre der großen frühgotischen Halle hatte ihr aufgewühltes Nervenkostüm beruhigt. Um sie herum, am Boden, an den Wänden, die in Stein gemeißelten Namen großer Männer: Galileo, Machiavelli, Michelangelo. Gräber, von Menschen, die den Verlauf der Geschichte beeinflusst hatten. Für Augenblicke hatte die junge Kunsthistorikerin eine Ahnung überkommen, als könne sie deren Gegenwart spüren. Ein Rendezvous mit der Ewigkeit.
Sie war erst wieder aus ihrer Trance erwacht, als sie jemand freundlich darauf hinwies, dass sie die Kirche jetzt verlassen müsse. An der Tür würden zahlende Kunstliebhaber warten, die er erst einlassen könne, wenn alle Gottesdienstbesucher draußen seien.
Auf der Piazza vor Santa Croce war sie am Dante-Standbild stehengeblieben. Was hätte er an ihrer Stelle getan? Der große florentinische Dichter war einer gewesen, der sich immer einmischte, auch wenn ihm das hinterher oft Ärger einbrachte. Was im Übrigen auch für Galileo und Machiavelli galt. Ach, zum Kuckuck mit ihrer Wankelmütigkeit. War es nicht Machiavelli gewesen, der meinte: „Gut ist, was nützt"? Was er durchaus nicht auf persönlichen Nutzen als vielmehr auf das Gemeinwohl bezogen wissen wollte.
Das war's! Machiavelli hatte recht! Marina Casanova fiel es wie Schuppen von den Augen. Es ging ja gar nicht darum, ob sie selbst etwas von dem Auftrag hatte; im Gegenteil. Wenn es sich wirklich um wertvolle Kunstschätze handeln sollte und irgendetwas damit nicht in Ordnung wäre, dann hätte sie doch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dagegen einzuschreiten. Aber dafür musste sie natürlich erstmal mitmachen. Und sollte sie sich täuschen und alles verliefe ganz sauber und legal? Auch gut. Dann hätte sie auf alle Fälle ihren Spaß gehabt. Also warum nicht ein bisschen Detektiv spielen? Miss Marple oder Hercule Poirot?
Allerdings brachten genau diese beiden Helden sie auf den Gedanken, dass es womöglich sinnvoll wäre, einen vertrauenswürdigen Helfer dabei zu haben. So wie Miss Marple ihren Mister Stringer oder Poirot den Captain Hastings. Ganz allein im fremden Land, wer weiß, was alles passieren konnte? Und noch während sie überlegte, war ihr eingefallen, wer ihr Mr. Stringer werden konnte: Tarzan. Kevin. Ihr Tanzpartner von den Kölschen Harlequins. Sie hatte ihn sofort angerufen. Er hatte ohne zu überlegen zugesagt. Als er erfuhr, dass alles auf Marinas Rechnung gehen würde, meinte er, er hätte sowieso gerade Bock auf Urlaub. In seinem Betrieb sei seit der letzten Verschärfung der Coronaregeln die Stimmung dermaßen im Keller. Einer sei des Anderen Teufel. „Et bliev nix wie et wor", was ungefähr so viel heißen sollte wie, „Es bleibt nichts, wie es mal war." Fertig. So war Kevin. Nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber ein Typ, mit dem man Pferde stehlen konnte.
Tja, und nun also war der knuddelige rote FIAT 500 auf dem Weg zum Flughafen, um Kevin abzuholen. Vergnügt trällerte Marina den Song mit, der gerade im Radio lief.
Am Terminal angekommen, musste sie nicht lange suchen. Kevins blonder Wuschelkopf überragte die meisten anderen Ankömmlinge deutlich. Dazu ein papageienbuntes Hemd, Anglerhütchen und Checker-Sonnenbrille. Typisch! Der absolute Hammer aber war seine in den Harlequinsfarben grün-rot-weiß karierte Maske mit Bommeln an beiden Enden. Offensichtlich Marke Eigenbau. Mit einem Jauchzer flog Marina ihm in die Arme.
„Harlequins e Levve lang!"
„Harlequins e Levve lang! ... Na du machst ja Sachen, Rinchen. Jut siehste aus."
„Danke, du auch, Tarzan. Schön, dass du so schnell kommen konntest."
„Haste Sorjen, haste Kummer? Wähl dem Tarzan seine Nummer. Aber mal im Ernst. Wat jenau ist denn los? Ich hab ehrlich gesagt nur die Hälfte von dem verstanden, was du mir am Telefon erklärt hast. Immerhin hat mir dein Anruf endlich zum Urlaub verholfen. Ich hab meinem Chef gesagt, es sei ein Notfall, und wenn er mir nicht freiwillig erlaubt, zu dir zu kommen, bummle ich ab sofort sämtliche Überstunden des letzten halben Jahres ab und danach kann er mich mal gerne haben. Das hat geholfen. Ist doch ein Notfall, oder?"
„Und ob. Aber komm erstmal mit zum Auto. Ich erklär dir alles unterwegs."
„Seit wann hast du ein Auto?"
„Seit heut Morgen. Ist gewissermaßen ein Dienstwagen." Beim Anblick des Kleinwagens fiel Kevin die Kinnlade runter.
„Das ist aber nicht dein Ernst? Die Asphaltblase ist dein Dienstwagen? Muss ja ein lausiger Job sein. Wie soll ich denn da reinpassen?"
„Hab dich nicht so", erwiderte Marina, „ich hab mir den selbst ausgesucht. Ich hätt auch einen Lamborghini nehmen können." Kevin tippt sich an die Stirn.
„Du hast wat? Du hast diese Knutschkugel einem Lamborghini vorgezogen? Also ehrlich, du musst nicht ganz dicht sein. ... Aber wahrscheinlich flunkerst du nur, und ich bin gerade drauf reingefalllen. ... Ha, ha. Guter Witz."
„Nee ehrlich. In echt. Wir müssen in nächster Zeit vor allem auf zwei Dinge achten: unauffällig bleiben und seriös wirken. Was glaubst du, warum ich mir gestern diesen grauen Hosenanzug gekauft habe." Kevin musterte sie skeptisch.
„Ich hab mich schon gewundert. Unauffällig und seriös also. Aber du weißt hoffentlich, dass das für‘n Harlequin zwei nahezu unerreichbare Zustände sind? Vor allem in der Kombination."
„Deswegen sage ich's dir ja gleich. Dein Hawaii-Hemd ist übrigens das erste, was bei dir wegmuss. Die Maske sowieso. Danach reden wir über die Shorts und die Sandalen."
„Das wagst du nicht."
„Und ob."
„Nur über meine Leiche!"
„Wenn's sein muss."
„Bring mich sofort zum Flughafen zurück!"
„Vergiss es. Und jetzt halt endlich die Klappe und hör mir zu."
Als der rote Kleinwagen vor Starhembergs Villa stoppte, kannte Kevin alle notwendigen Details und wusste in etwa, was ihn hier auf dem Berg erwartete. Für ihn stand ein Gästezimmer bereit, gleich neben dem von Marina. Deren Gepäck hatte Catalina bereits am Morgen in einem geräumigen begehbaren Schrank verteilt. Jetzt begrüßte das Mädchen die Neuankömmlinge mit dem obligatorischen Dienstboten-Knicks und griff nach Kevins Rucksack. Was der unter keinen Umständen zulassen wollte, worauf es zu einem kleinen Gerangel kam. Fast wären sie dabei mit den Köpfen zusammengestoßen. Erst da gab Catalina nach, entschuldigte sich und lief tiefrot an. Dem sonst um keinen Spruch verlegenen Kevin ging es nicht anders. Für einige wenige Momente bleib er sprachlos. Marina musste grinsen, als sie die beiden nun wie begossene Pudel nebeneinanderstehen sah. Fröhlich klopfte sie ihnen auf die Schulter.
„Sowas passiert, wenn zwei Welten aufeinandertreffen. Früher nannte man das Kulturkampf. Aber weißt du, liebe Catalina, weder mein Assistent - sie wählte diesen Begriff bewusst, denn so hatte sie die Notwendigkeit seiner Anwesenheit dem Grafen begründet - noch ich sind feine Leute. Bitte verstehe es nicht als Angriff auf deine Berufsehre. Wir wollen einfach manches alleine machen. Übrigens vielen Dank, dass du mir beim Einzug geholfen hast. Zeig Kevin jetzt bitte sein Zimmer und lass ihn seinen Krempel tragen. Ich denke, ihr werdet euch schon aneinander gewöhnen, wenn ihr euch besser kennenlernt."
Auf dem Weg ins Obergeschoss kam der junge Mann nicht aus dem Staunen heraus. Ein ums andere Mal zischte er Marina ein „Bow eh, geil!" ins Ohr. Seiner „Chefin" entging nicht, dass damit zuweilen auch das Hausmädchen gemeint war, das die „Herrschaften" durch die mondänen Räume führte. Marina nahm es ihrem Tarzan nicht übel. Erstens war Kevin für sie wirklich nur ein zuverlässiger Kamerad. Mehr nicht. Und zweitens konnte sie nicht leugnen, dass die zierliche junge Frau sehr viel Grazie besaß und ihren Beruf ausgesprochen ernst nahm. Ein englischer Buttler hätte kaum mehr Stolz und Würde in jede seiner Bewegungen legen können. Beeindruckend.
Das Abendessen bereitete Catalina im Atrium am Springbrunnen. Neben Brot, Öl und Oliven fanden sich diverse kleine Pfannen mit Meeresfrüchten, gedünsteten Tomaten, Knoblauch, gerösteten Schinkenstreifen sowie ein Schälchen frisch angemischten Pestos mit kräftiger Basilikumnote, eine große Pfeffermühle und geraspelter Grana Padano. Als krönenden Höhepunkt stellte sie schließlich eine riesige Schüssel selbstgemachter Spaghetti in die Mitte. Dazu reichte sie Chianti und Wasser. Marina fühlte sich wie im Himmel. Kevin, frisch geduscht und nun etwas dezenter gekleidet, ließ sich nicht zweimal bitten. Er gestattete Catalina, ihm reichlich aufzutun.
Graf Starhemberg freute es, seine Gäste in so guter Stimmung vorzufinden. Sein Wochenende war nicht weniger anstrengend gewesen als das von Marina. Deren Fragen hatten ihn durchaus beunruhigt. Hatte er aufs richtige Pferd gesetzt? Nichts konnte er bei diesem Geschäft weniger brauchen als Zweifel. Noch hätte er die Reißleine ziehen können, noch waren keine Interna preisgegeben. Aber das würde sich ändern. Spätestens dann kam es darauf an, dass niemand im Team nervös wurde. In dem Fall würde es kaum zu vermeiden sein, die betreffende Person zu eliminieren. Weswegen er sich zwar einerseits über Marinas Zusage freute, andererseits jedoch ziemlich entsetzt zur Kenntnis nahm, dass sie einen Assistenten kommen lassen wollte. Da sie sich von diesem Vorsatz jedoch nicht abbringen ließ, hatte er nachgegeben. Die Frau war für ihn eine Investition in die Zukunft, eine Absicherung, auf die er nicht mehr verzichten wollte. Insofern schien ihm das Risiko eines weiteren Mitwissers kalkulierbar. Seine Geschäftspartner würden im Notfall geeignete Mittel und Wege finden.
Nichts desto trotz interessierte es den Grafen brennend, welche Qualitäten der Herr Assistent mitbrächte, die für Frau Casanova so unverzichtbar seien? Ob er denn auch vom Fach sei? Eine Frage, die Kevin kurz und knapp klarstellen konnte.
„Nein."
„Ach?"
„Ja."
„Und was genau werden Sie dann beitragen können?"
„Ich bin Marinas, also Frau Casanovas, Techniker." Diese Formulierung hatten die beiden Harlequins im Auto abgesprochen. Es kam der Wahrheit durchaus nahe. Weswegen Kevin die Zusammenhänge sehr souverän erklären konnte. „Sehen Sie, Herr Graf, ich arbeite in Deutschland in einem Betrieb, der Feinmechanik-Werkzeuge beziehungsweise Werkzeugmaschinen für Hersteller im Bereich Feinmechanik produziert. Mein Job ist es, unsere Produkte zu prüfen, bei Problemen Lösungen zu finden, unter Umständen auch einmal zu experimentieren, Neues zu testen und ja, zuweilen zu improvisieren, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Ich kenne mich mit Geräten, wie sie Frau Casanova für ihre Arbeit brauchen wird, gut aus, stehe als Bastler und Tüftler bereit, ein Mikroskop beispielsweise anzupassen, vielleicht eine zusätzliche Linse einzubauen oder etwas in der Art."
„So sieht es aus", ergänzte Marina, nachdem sie ihre letzte Spaghetti genüsslich mit einem Schluck Chianti heruntergespült hatte, „er ist wirklich ein Experte mit solchen Sachen. Einen besseren gibt es nicht. Und da wir nach Ihren Worten nicht genau wissen, was auf uns zukommt, scheint es mir unerlässlich, jemanden wie Kevin dabei zu haben. Gewissermaßen als Backup und Problemlöser." Sie schenkte dem Grafen ihr bezauberndstes Lächeln. Dem fiel angesichts so überzeugender Argumente nichts mehr ein.
„Ein Problemlöser also!" Er nickte. „Na gut, dann soll es so sein. Willkommen im Team. Ich hoffe, es gefällt Ihnen in meinem bescheidenen Heim."
„Och wissen Sie, das ist alles ganz okay." Kevins herablassende Attitüde brachte Marina fast dazu, laut loszuprusten. Zum Glück hatte sie gerade keinen Chianti im Mund. Tarzan schien ihre Heiterkeit nicht zu bemerken. Ungerührt fuhr er fort. „Wenn Ihre Perle, also die Catalina, wenn die immer so lecker kocht, bleibe ich gern auch länger."
Graf Starhemberg verkniff sich ein „Gott bewahre!" Ein wenig pikiert antwortete er stattdessen:
„Das freut mich, und ich werde es dem Mädchen ausrichten." Jetzt konnte Marina nicht mehr an sich halten. Sie lachte laut los. Die verwirrten Blicke der beiden Männer machten die Sache nicht besser. Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte. Dann meinte sie:
„Bitte entschuldigen Sie, meine Herren. Herr Graf, Sie kennen mich inzwischen gut genug und wissen, dass man mich schnell zum Lachen bringt. Tut mir wirklich leid." Der Angesprochene winkte ab.
„Keine Ursache. Habe ich was Falsches gesagt?"
„Nein, nein, überhaupt nicht. Es ist nur, Sie beide sind so extrem unterschiedliche Männer. Wenn ich höre, wie Sie hier gerade versuchen, trotzdem irgendwie sinnvoll miteinander zu kommunizieren, bitte seien Sie mir nicht böse, das klingt für eine Außenstehende wirklich komisch. ... Aber das ist ganz allein meine Schuld, dass ich so albern bin. Und im Moment kommt dazu, dass ich mich einfach auf die Aufgabe freue." Der Graf beugte sich erleichtert vor, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.
„Signorina, wer könnte Ihnen böse sein?" Kevin stimmte ihm zu.
„Da haben Sie vollkommen recht. Und außerdem, wir sind beide Karnevalisten, tanzen im gleichen Verein. Ohne bisschen Spaß und Albereien geht bei uns sowieso nichts. Narren halt."
„Ach, im gleichen Verein sogar? Das ist schön. Davon müssen Sie
mir mehr erzählen." Womit das Eis gebrochen war. Es wurde ein fröhlicher Abend. Zu vorgerückter Stunde ließ Kevin die anderen beiden am Springbrunnen allein und machte sich auf die Suche nach
Catalina. Er hielt es für angebracht, sich für den kleinen Streit am Auto zu entschuldigen und persönlich für das gute Essen zu danken. Er traf sie im Garten auf einer Bank. Zum Glück ohne den
Gärtner.